Montag, 24. Mai 2010

Spaziergang durch fünf Biografien


Text: Jennifer Lepies

Inszenierung ZUHAUSE unter der Regie von Joachim von Burchard nach dem Erzählband „Bin nebenan“ von Ingrid Lausund.

Nach fünf Minuten Fußweg erreicht man den Mann, der in seiner spärlich eingerichteten Garage lebt, im Haus nebenan trifft man im Hausflur auf eine junge Frau in Tränen aufgelöst. Nach einem erneuten Fußweg sieht man einer Frau in ihrem Wohnzimmer beim Durchdrehen zu und letztlich wird man Zeuge, wie eine verwirrte Wissenschaftlerin intensiv ein Institutsgebäude erforscht – mit diesen Episoden ist die Inszenierung „Zu Hause“ von Joachim von Burchard ein beklemmend offener Einblick in die Biografien und Gefühlswelten von vier beispielhaften Schicksalen unserer Gesellschaft. Die Figuren öffnen nicht nur ihre Haustür, sondern entfalten ihr ganzes Leben. In insgesamt fünf Szenen erzählt die Produktion vom „Theater M 21“ in der mobilen Bühne und an vier weiteren Schauplätzen in dessen Nähe, wie die jeweiligen Bewohner in ihrem Zuhause eingerichtet sind. Die Zuschauer spazieren dabei von einer Spielstätte zur nächsten.

Die in sterilem Weiß gekleidete Wissenschaftlerin muss sich dabei erst einmal in ihrem Institut scheinbar nach einem Umbau neu zu recht finden. Mit äußerster Akribie werden alle Wände und Oberflächen betastet, wirre Wegweiser vorgelesen – ein Zu Hause-Gefühl stellt sich nicht ein. Im Gegenteil: Der Ort wird immer fremder. Und Susanne Martin spielt die Figur zunehmend entrückter. Wildes Herumtasten und Sprachstörungen kommen hinzu, hier ist keine Forscherin mehr am Werk, sondern man erlebt, wie sich eine hilflose Person in einen schizophrenie-artigen Zustand hineinsteigert.

Am nächsten Ort trifft das Publikum auf eine euphorische, junge Frau im Morgenrock. Sie freut sich auf den neuen Esstisch, der bald kommen wird, ist begeistert von den zwei Kaminen, die die Wohnung so gemütlich machen. Doch etwas stimmt nicht. Schnell wird klar, dass die Wohnung zwar „funktioniert“, doch die Beziehung zu ihrem Freund, der mit ihr darin lebt, gescheitert ist. Martina Hesse transportiert in ihrer Darstellung überzeugend das Wechselbad der Gefühle, durch das die Figur geworfen wird.

Imme Beccard spielt eine junge Frau im heimischen, farbenfroh eingerichteten Wohnzimmer. Die Entspannung der „Feierabendposition“ hält nur wenig an, bald tigert sie unruhig um den kleinen Couchtisch. Beccards Figur ist getrieben und geplagt von ihren Emotionen, für die sie kein passendes Ventil findet. Sie schmeißt den Staubsauger an und saugt mit wütendem Elan Teppich, Sofa und die Erde der Yuccapalme. Nervöses Drehen am Globus – liegt die Antwort vielleicht in Island, wo der Finger gelandet ist, oder ist es einfach Heimweh?

Am eindringlichsten aber ist die Geschichte des junge Mannes, der sich in einer Garage eingerichtet hat: mit Bett, Kochnische, Tisch und einem kleinen Aquarium. Johannes Nehlsen gibt dem naiv-zurückgebliebenen Bewohner ein trauriges Gesicht. Sein Blick sucht oft den direkten Augenkontakt, dabei erzählt er von seiner Kindheit im Kinderheim, seinen beinahe-Eltern und von der Putenschlachterei, in der er arbeitet. Er versucht das Beste aus allem zu machen und skizziert dabei ein Leben, dessen Tragik das der anderen Figuren übertrifft.

Die Inszenierung findet nach den beklemmenden Monolog-Szenen eine entspannteren Ausklang mit einer Szene, in der die vier Darsteller gemeinsam spielen. Durch die Form des Monologs und die drei kleinen Zuschauergruppen, die – so der Clou des Stückes – die unterschiedlichen Szenen gleichzeitig an den verschiedenen Orten erleben, wird zwischen Publikum und Darsteller eine Nähe geschaffen, die die prekären Situationen noch intensiver fühlbar werden lassen. Die Monologe sind allesamt dem Erzählband „Bin nebenan“ von Ingrid Lausund entnommen. Die Inszenierung zeigt eindringlich, wie viel die Orte, wo wir leben, von uns selbst erzählen und wie wir unser Leben eingerichtet haben. Die ausgewählten Figuren wollen nicht unbedingt ein Querschnitt durch die Gesellschaft sein, doch man kann sich erschreckend deutlich Leute vorstellen, die Ähnliches durchleben. Vielleicht erkennt man sich in der ein oder anderen Figur sogar selbst wieder. Genau diese Nähe ist es, die die hervorragend aufgeführte Inszenierung so beklemmend echt wirken lässt.

Weitere Vorstellungen 25. Mai, 1. und 2. Juni
19:30 Uhr, Goethe-Institut Merkelstraße 4